Innovation
Reifen ohne Pannengefahr
Ein luftloser, robuster Reifen, der unter normalen Umständen nur Laufflächenverschleiß aufweist, aber sonst unkaputtbar ist gegen Stich- und Stoßschäden, wäre eine großartige Erfindung. Sowohl für Betriebe (Flotten) als auch Endkunden. Denn ein luftloser Reifen braucht auch keine Reifendruckkontrolle und kann praktisch nicht „falsch“ verwendet werden, also durch zu viel oder zu wenig Luftdruck negativ beeinflusst werden. Selbst die Einlagerung über den Winter (oder Sommer) wäre leichter. Michelin hat so ein System 2017 erstmals gezeigt und immer wieder weiterentwickelt. Seit 2019 gibt es den „Uptis“ in seiner jetzigen Form. Derzeit laufen größer angelegte Vorserientest im Alltagsbetrieb bei Lieferdiensten wie beispielsweise DHL in Deutschland und in Frankreich.
Licht und Schatten
Ein wartungsfreier, pannensicherer Reifen ist für Endkunden ein tolles Produkt, bringt aber auch ein paar Schattenseiten mit sich, vor allem für den Reifenfachhandel und die Industrie. Die einfache Rechnung: Jeder Reifen, der durch einen Schaden unbrauchbar wird, muss ersetzt werden. Bei den meisten Autos muss das achsweise passieren. Insofern ist jeder unspektakuläre Reifenschaden ein gutes Geschäft für Reifenhandel und Industrie. Es müssen zweimal neue Reifen gekauft, gewuchtet und montiert werden. Ärgerlich für den Endkunden, gut für die Fahrsicherheit und die Reifenbranche. Ein Konzept wie der Michelin Uptis kann hier das Ersatzgeschäft massiv reduzieren. Das ist natürlich nachhaltiger und gut für die Umwelt, denn wenn der zweite Reifen auf der Achse fast noch neuwertig ist, muss er trotzdem runter, um ABS und ESP nicht zu verwirren. Im schlechtesten Fall landen also ein kaputter und ein guter Reifen in der Entsorgung. Wäre der pannenlose Reifen ein Massenprodukt und auf Millionen von Pkw montiert, würde die Industrie sicher den Absatzrückgang bei Ersatzreifen zu spüren bekommen. Aktuell ist leider nicht bekannt, ob ein Uptis im Falle eines Schadens ebenfalls achsenweise getauscht werden muss. Es wäre allerdings naheliegend, dann das Hauptargument für den achsenweisen Austausch ist der unterschiedliche Raddurchmesser bei einem neuen Reifen (mit vollem Profil) und einem benutzten Reifen (abgefahrenes Profil).
Rad statt Reifen und Felge
Nächster Knackpunkt beim Michelin-Konzept: Felge und Reifen sind über die Lamellen-Waben-Struktur aus speziellen Harzen und Kunststoffen, die praktisch den Reifenkern bildet, fest und untrennbar miteinander verbunden. Das heißt: Ist die Lauffläche abgenutzt, muss das komplette Rad gewechselt werden und nicht nur der Reifen / die Lauffläche. Umgekehrt könnte das bedeuten, dass die Zubehör-Felgenindustrie massive Umsatzeinbrüche erleiden könnte, da man nicht einfach beliebig Felgen plus Reifen kombinieren kann, sondern es nur mehr „Rad-Reifen-Systeme“ geben könnte. Und wie nachhaltig ist es, wenn bei jedem System, wo eigentlich nur die Lauffläche runter ist, gleich die Felge mitgetauscht werden muss? Hier bräuchte es eine Möglichkeit, die Felge vom Reifen zu trennen und eventuell den neuen Reifen samt Körperstruktur wieder damit zu verbinden, um einem unnötigen Austausch vorzubeugen. Das wäre wirklich nachhaltig und könnte für die Reifenfachbetriebe den Umsatz sichern. Auch Reifendruckkontrollsysteme fielen dann weg, ebenfalls ein Ertragsbringer im Reifenbusiness.
Maßgeschneidert und innovativ
Das jeweilige Rad-Reifen-System ließe sich zu 100 Prozent individuell auf das jeweilige Fahrzeug maßschneidern. Felgen und ihre Dimensionen haben auf das Fahrverhalten in enger Abstimmung mit dem Fahrwerk einen massiven Einfluss. Sie gelten oft als vom Hersteller vorgegeben. Der Reifen ist dabei die leicht austauschbare Komponente und damit eine Variable. Mit dem kompletten Rad-Reifen-System wäre für jedes Fahrzeug ein ganz individuelles Rad denkbar, welches perfekt auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Beim Sportwagen auf maximale Kurvenperformance, knackiges Einlenkverhalten und hohe Rückmeldung, bei der Limousine auf Haltbarkeit, Komfort, niedrigen Verbrauch usw. Für die Fahrzeughersteller reizvoll dabei: Es würden alle Variablen, die alleine durch die Rad-Reifen-Kombinationsmöglichkeiten entstehen, wegfallen. Definitiv ein Plus für die Fahrsicherheit, doch für die Tuningszene ein Albtraum, denn diese ist in Österreich und Deutschland einige Milliarden Euro schwer – pro Jahr.
Fazit
Der pannenlose Reifen wird früher oder später kommen – vielleicht sogar kommen müssen. Er ist die logische Weiterentwicklung, ungeachtet seiner Schattenseiten für gewisse Geschäftsfelder. Ob es wirklich schon 2024 soweit ist, darf bezweifelt werden. Aber die Alltagstests im Flottenbetrieb werden häufiger, und mit den gewonnenen Expertisen werden wir in den nächsten Jahren ein fertiges Produkt für den Massenmarkt bekommen. Bis dahin heißt es mal wieder für die Reifenbetriebe: Am Reifen bleiben und sich anpassen.