Technischer Wandel
„Die traditionelle Werkstatt wird bleiben“
AUTOMOTIVE.AT: Herr Ringseis, welche sind aktuell die größten Herausforderungen für freie Werkstätten?
GEORG RINGSEIS: Das Automobil ist ein Technologieträger – im Zeitalter der Digitalisierung und Vernetzung mehr denn je. Beispielsweise gehört heute das Flashen – sprich das Programmieren bzw. Updaten von Steuergeräten auch in einer freien Werkstätte zu den grundlegenden Fähigkeiten, die beherrscht werden müssen. Die größte Herausforderung ist darum die zunehmend notwendige Digitalisierung der Werkstätte, um mit der rasanten Entwicklung der technischen Anforderungen mithalten zu können. Aktuell gehören dazu ganz besonders die Modernisierung der Diagnosegeräte und die passenden Schulungen für Mitarbeiter:innen. Dafür muss die Werkstätte die finanziellen Mittel verfügbar haben. Was ich dabei für sehr wichtig halte: Bevor über Modernisierungen und Schulungen entschieden wird, sollte Klarheit bestehen, welchen Kundenbedarf man in Zukunft decken möchte. Es ist ratsam, wenn man für seinen Betrieb eine – zumindest grobe – Strategie hat. Dieser Herausforderung müssen sich alle Fahrzeugwerkstätten stellen, freie Betriebe aufgrund des Mehrmarken-Konzepts aber umso mehr.
Auf welche künftigen Anforderungen sollten sich die Werkstätten vorbereiten?
Moderne Fahrzeuge sind rollende Rechenzentren. Darum wird generell mehr und mehr IT-Know-how gefragt sein. E-Fahrzeuge erfordern darüber hinaus auch den Umgang mit Hochvoltantrieben. Werkstattbetreiber müssen sich hier die Frage stellen: Bin ich und meine Mitarbeiter:innen ausreichend geschult und haben wir die notwendige Ausrüstung? Ein weiterer Aspekt ist, dass OEM im Zeitalter der Digitalisierung und Vernetzung zunehmend ihren privilegierten Zugang zu den Fahrzeugschnittstellen nutzen. Damit sind sie in der Lage, unmittelbar und direkt mit den Fahrzeugnutzer:innen zu interagieren und sie gezielt in die eigenen Service- und Reparaturnetzwerke zu steuern. Was wir weiters sehen ist, dass immer häufiger versucht wird, Cybersecurity als Argument zu verwenden, um wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen zu legitimieren. Zu den bereits bekannten Herausforderungen zählt, dass manche Fahrzeughersteller in der Gewährleistung ein Kundenbindungsprogramm sehen. Vor allem wenn sie ihren Kund:innen suggerieren, dass sie ihre Gewährleistungsansprüche verlieren, wenn sie während der Gewährleistungsdauer in die freie Fachwerkstätte fahren. Das ist aber falsch. Denn die Regelungen in der Aftermarket-GVO sind dazu unmissverständlich und klar. Niemand verliert den Gewährleistungsanspruch, wenn er oder sie in eine freie Werkstätte fährt und dort ein Service oder eine Reparatur nach Herstellervorgaben machen lässt.
Kann eine Werkstatt aus Ihrer Sicht die nächsten zehn Jahre überleben, wenn sie sich dem Thema Elektromobilität komplett verweigert?
Ja, davon sind wir im VFT fest überzeugt. Klar ist: Das E-Auto ist gekommen, um zu bleiben. Aber: So wie Rom nicht an einem Tag erbaut wurde, wird auch unsere Mobilität nicht über Nacht elektrifiziert werden. Denn mit dem E-Auto allein ist es ja – mit Blick auf die notwendige Infrastruktur – bei weitem noch nicht getan. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass 2035 erst jedes vierte Fahrzeug in der Bestandsflotte batterieelektrisch angetrieben sein wird. Das heißt: Auch die „traditionelle“ Werkstätte wird ihren Platz haben. Darüber hinaus gibt es ja auch heute schon zahlreiche Werkstätten, die sich auf bestimmte, antriebsunabhängige Leistungen – denken wir an Autoglas, Reifen u.ä. – spezialisiert haben. Auch die Young- und Oldtimerszene gewinnt an Bedeutung. Damit bleibt auch die klassische Reparatur weiterhin bestehen. Dementsprechend gibt es immer mehr Betriebe, die sich auf die Reparatur von älteren Komponenten spezialisiert haben.
In welcher Größenordnung kommen Investitionen auf jene freien Werkstätten zu, die Hybrid- und Elektrofahrzeuge servicieren und reparieren wollen?
Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Freie Fachwerkstätten sind für ihr Mehrmarken-Konzept bekannt und beliebt. Wir müssen sehen, ob sich dieses Konzept in der bisherigen Form auf den Bereich der E-Fahrzeuge übertragen lässt. Schätzungen gehen in Abhängigkeit von der Anzahl an Mitarbeitern bzw. Arbeitsplätzen für OEM-Reparaturbetriebe im E-Segment im Durchschnitt von bis zu 200.000 Euro Investitionsvolumen für Werkzeuge, Schulungen und Werkstattausrüstung aus. Für kleinere Betriebe wird es entsprechend weniger sein. Solche Investitionen kommen aber bestimmt nicht für alle freien Werkstätten in Frage. Darum rechnen wir auch damit, dass es in Zukunft zu einer stärkeren Zusammenarbeit innerhalb kleinerer Einheiten und auch über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg kommen wird – eventuell ein wenig vergleichbar wie wir das im Gesundheitsbereich von Ärztezentren kennen, wo sich mehrere Spezialisten zusammenfinden und so für ihre Patient:innen gemeinsam ein sehr breites Leistungsspektrum abdecken. Denn aus Sicht einer freien Werkstätte macht eine solche Investition derzeit bestenfalls dann Sinn, wenn sie sich – zumindest jetzt, wo die E-Flotte noch sehr klein ist – spezialisiert. Hier sind dann entsprechende Fähigkeiten gefragt, wie z.B. der Austausch von Batteriemodulen oder die Kalibrierung von spezifischen E-Fahrzeugkomponenten. Gleichzeitig bleibt der Bedarf an Fachwerkstätten für konventionell angetriebene Fahrzeuge wie bereits erwähnt hoch.
Ist mit einem Rückgang des Reparaturgeschäftes zu rechnen, weil Elektroautos einen geringeren Servicebedarf haben?
Reparatur bedeutet: Etwas ist kaputt gegangen und muss darum instandgesetzt bzw. getauscht werden. Auf der einen Seite kann man grob davon ausgehen, dass batterieelektrische Fahrzeuge im Durchschnitt 30 Prozent weniger „traditionelle“ Ersatzeile benötigen wie Fahrzeuge mit Verbrennungsantrieb. Auf der anderen Seite gibt es aber auch spezifische Ersatzteile, die wiederum nur E-Autos benötigen. Insgesamt ist bis in knapp 20 Jahren mit einem Rückgang des Ersatzteilbedarfs zwischen 13 bis 17 Prozent zu rechnen. Das heißt aber nicht automatisch, dass in der Werkstatt weniger los ist. Denn was wir zumindest derzeit sehen ist, dass bestimmte Fahrzeugteile bei E-Autos – oft aufgrund des hohen Fahrzeuggewichts – höherem Verschleiß ausgesetzt sind und darum auch häufiger getauscht werden müssen. Gleichzeitig werden bei E-Autos z.B. auch Klimaanlagen ein Service brauchen und Pollenfilter zu tauschen sein. Und auch das Pickerl ist bei E-Autos regelmäßig fällig. Was wir bis hierhin noch gar nicht betrachtet haben ist der Bereich Software bzw. Software-Updates u.ä. Hier sind OEM momentan aufgrund ihrer bereits erwähnten, privilegierten Position und dem Direktzugang zu den Fahrzeugnutzer:innen im Vorteil. Eine entsprechende EU-Datengesetzgebung könnte das ändern.
Sehen Sie die Zukunft der freien Werkstätten aufgrund des von den Automobilherstellern eingeschränkten Zugangs zu Reparaturdaten bedroht?
Der Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für den freien Reparatursektor war schon bisher in der Aftermarket-GVO geregelt. Dieses Regelwerk wurde nicht nur gerade erst für weitere fünf Jahre von der EU-Kommission verlängert, sondern sogar ausgeweitet. War in der Vergangenheit lediglich von technischen Reparatur- und Wartungsinformationen die Rede, müssen freie Marktteilnehmer nun ausdrücklich Zugang zu technischen Informationen, Werkzeugen, Schulungen und auch fahrzeuggenerierten Daten haben, die für die Instandsetzung und Wartung von Fahrzeugen erforderlich sind. Ausgehend davon sollte es eigentlich keine offenen Fragen geben. Die Praxis hat uns aber schon bisher eines Besseren belehrt. Das zeigt auch ein aktuelles Verfahren, das unser deutscher Schwesterverband GVA gegen Scania vor dem Europäischen Gerichtshof führt. Dort geht es um die angemessene Bereitstellung der Fahrzeugidentifikationsnummern durch den OEM. Nichts destotrotz bedarf es weiterhin der Diskussion mit den OEM auf nationaler und europäischer Ebene um den Status Quo nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch an den jeweils technisch aktuellen Stand anzupassen.
Ist auf politischer Ebene in absehbarer Zeit eine Lösung zu erwarten, die den freien Werkstätten das Überleben sichert?
In einem Markt mit funktionierendem Wettbewerb, in dem Kund:innen eine echte Wahlfreiheit haben, haben sie das letzte Wort. Sie beurteilen, ob die gebotene Leistung und Qualität des Kfz- oder des Karosseriebautechnikers bzw. der -technikerin zum Preis passt und ob sie wiederkommen. Am Ende entscheiden also die Kund:innen, wer langfristig wirtschaftlich überlebt. Aus Sicht der Werkstätten gilt unter solchen Rahmenbedingungen: Jeder ist seines Glückes Schmied. In einem asymmetrischen Markt, wo es diesen Wettbewerb auf Augenhöhe nicht gibt und Kund:innen keine echte Wahlfreiheit haben, weil z.B. bestimmte Fahrzeugteile, -daten und Leistungen nur über einen bestimmten Anbieter zu bekommen sind, funktioniert das nicht. Freie Werkstätten sind in zahlreichen Leistungsbereichen mit Alltagshürden konfrontiert. Manche dieser Hürden lassen sich mit zeitlichem oder finanziellem Mehraufwand vielleicht überwinden, andere hingegen nicht. Jede einzelne Hürde bedeutet eine Ungleichstellung im Wettbewerb für Reparaturleistungen. Und darum ist auch jede einzelne Maßnahme, die hilft, mehr Symmetrie in den Reparaturmarkt zu bekommen, wichtig und sinnvoll. Im VFT setzen wir uns Tag für Tag dafür ein, dass es zu solchen Maßnahmen kommt – und dürfen uns immer wieder über Erfolge freuen. Die Mühlen in Europa mahlen zwar langsam, aber wir sehen immer wieder positive Signale der EU-Kommission und erkennen ihren Willen, den Wettbewerb zu stärken. Die bereits angesprochene aktuelle Ausweitung der Aftermarket-GVO ist so ein Beispiel. Derzeit befindet sich auch die Neuregelung des europäischen Designschutzes in Arbeit. Dabei wird gerade über die erstmalige Einführung einer europaweit gültigen Reparaturklausel verhandelt. Die ist für das freie Angebot bei sichtbaren Fahrzeug-Ersatzteilen wichtig. Das dickste Brett, das wir aus Sicht des freien Aftermarket momentan bohren, ist die europäische Datengesetzgebung. Da steckt viel Zukunft – und damit viele Chancen, aber auch viele Risiken – für den freien Mobilitäts- und Reparatursektor drin. Der Vorschlag für ein allgemeines EU-Datengesetz hat ja bereits Form angenommen und wird gerade unter den EU-Institutionen diskutiert. Dieser allgemeine Ansatz wird jedoch den Gegebenheiten des Automotive-Sektors nicht gerecht. Z.B. haben derzeit einzig die Fahrzeughersteller einen privilegierten Zugang zu Daten aufgrund des technischen Designs der in den Fahrzeugen verbauten Systeme. Sie entscheiden nach eigenem Ermessen, wer wann welche Daten und in welcher Form bekommt. Das gibt den Herstellern der Fahrzeuge eine beherrschende Stellung und führt zu asymmetrischen Marktverhältnissen. Und darum braucht der Fahrzeugbereich sektorspezifische Regeln. Wir hoffen, dass die EU-Kommission dazu bis Herbst einen Vorschlag ausarbeitet. Andernfalls wird es zeitlich in dieser Legislaturperiode eng, denn im Juni 2024 sind Europawahlen.
Kann die Lehrausbildung mit der rasanten technologischen Entwicklung noch Schritt halten?
Eingangs haben wir schon über die technischen Herausforderungen gesprochen, mit denen insbesondere die freien Werkstätten konfrontiert sind. Hier spielt auch die Lehrausbildung eine Rolle, denn die kann mit der raschen Entwicklung der technischen Anforderungen nicht mithalten. Das liegt zum einen daran, dass das Ändern von Lehrplänen ein langwieriger Prozess ist. Wichtig ist dabei, dass die Grundausbildung nicht zu kurz kommt. Gleichzeitig endet die Notwendigkeit, Neues zu lernen nicht mit der Berufsschule bzw. dem Lehrabschluss. Was wir brauchen, ist eine weiterführende Ausbildung nach der Lehrabschlussprüfung. Aus diesem Grund sind die Reparaturbetriebe gefordert, ihre Mitarbeiter:innen bedarfsentsprechend zu schulen.
Mit welchen Maßnahmen sollte gegen den Fachkräftemangel vorgegangen werden?
Es hat einen Grund, warum der Beruf „Kfz-Techniker:in“ nicht mehr „Kfz-Mechaniker:in“ heißt; auch in Deutschland wurde die Bezeichnung in „Kfz-Mechatroniker:in“ geändert, weil heutzutage neben den traditionellen mechanischen Kenntnissen viel zusätzliches Know-how notwendig ist. Das verdeutlicht auch, wen wir für die Arbeit in der Werkstätte begeistern müssen: vielseitig interessierte, smarte und motivierte Burschen und Mädchen. Aus diesem Grund braucht es aus meiner Sicht ein ganzes Maßnahmenbündel: Am Anfang stehen dabei die Pflichtschulen. Dort muss die Ausbildung und damit das Ausbildungsniveau der Pflichtschulabsolvent:innen besser werden. Wenn es um die anschließende berufliche Ausbildung geht, braucht es wiederum eine stärkere Unterstützung und bessere Förderung der ausbildenden Betriebe. Vorstellbar ist z.B., dass Lehrbetrieben die Lohnnebenkosten für ihre Lehrlinge erlassen werden. Solange es einen Fachkräftemangel gibt, sollte man gleichzeitig aber auch über flankierende Maßnahmen konstruktiv diskutieren, etwa die Dauer der Arbeitslosenunterstützung oder eine leichtere Arbeitsmarkzulassung von Fachkräften aus Drittländern.
Rechnen Sie mit einer Insolvenzwelle bei freien Werkstätten aufgrund der zunehmend schwierigen Rahmenbedingungen des Reparaturgeschäftes?
Nein, Insolvenzen erwarte ich in diesem Zusammenhang nicht. Wovon ich allerdings ausgehe ist, dass die Zahl der Betriebsschließungen zunehmen wird. Zum einen aufgrund der demografischen Entwicklung, die in Kombination mit dem Fachkräftemangel zu altersbedingten Betriebsschließungen mangels Nachfolger:in führen. Zum anderen aber auch weil die Investitionssummen – wie erwähnt – hoch und Fremdfinanzierungen unter den derzeitigen Kreditvergabe-Richtlinien schwer zu bekommen sind.